Tagebuch einer Schamanin, aufgewachsen in der mongolischen Steppe bei Nomaden, Vater deutsch, Mutter Mongolin.
Immer wieder werde ich von Lesern gefragt, wie ich in einer archaischen Welt bei den Nomaden in der mongolischen Steppe überleben konnte. Vor allem, wenn ich mit jüngeren Menschen spreche, da gibt es welche, die können sich eine Welt ohne Handys überhaupt nicht vorstellen.
Und dann wurden die Nomaden von einem Tag auf den anderen mit der sogenannten Zivilisation konfrontiert. Die Russen errichteten immer mehr Medizinstationen. Was gab es da alles zu bestaunen? Da floss das Wasser aus der Wand! Für die Russen war das einfach ein Wasserhahn.
Ich war ja schon von meinem Lehrer auf solche Dinge vorbereitet worden. Aber die Nomaden in der Sippe, als die zum ersten Mal einen Wasserhahn sahen, sie konnten sich das nicht erklären, also war das für sie Zauberei. Und die Russen mussten demnach sehr mächtige Dämonen beherrschen.
Jedenfalls viel mächtigere Dämonen als der Schamane der Sippe. Deshalb hatten ja viele Sippenmitglieder Angst vor den Medizindämonen bei den Russen. Aber sie erkannten, dass die russischen Ärzte ein gebrochenes Bein oft besser heilten als der Schamane. Vor allem, wenn der Schamane zur Zunft der Zettelschlucker gehörte.
Das ging dann so: Der Schamane schrieb ein Gebet auf einen Zettel, und den musste der Kranke schlucken. Manchmal half das sogar. Nicht wegen des Zettels. Auch nicht wegen der Zauberworte. Ganz einfach, weil der Kranke sich einbildete, dass der Zettel ihm helfen werde. Und durch diese Einbildung wurden die Selbstheilungskräfte aktiviert.
Ich war da anders: Angst vor den angeblichen Dämonen hatte ich bald nicht mehr. Da wollte ich der Sache auf den Grund gehen. Und ich hatte Glück, meist Menschen kennenzulernen, die meine Fragen beantworteten. Und ich hatte viele Fragen. Und es war gut für mich, dass ich durch meine Krankheit sehr früh Kontakt mit den Russen hatte.
Während die meisten Nomaden sich vor den Autos und Hubschraubern der Russen ängstigten und sie für einen mächtigen Zauber hielten, wusste ich, dass diese Maschinen eine Art stinkendes Wasser brauchten. Fehlte dass, dann bewegten sich diese Maschinen nicht und standen da wie tot.
Diese Denkweise, den scheinbar unerklärlichen Dingen auf den Grund zu gehen, hat mich geprägt. Und ich begegne immer wieder Menschen, die sich dann über mich ärgern, weil ich ihre Illusionen zerstöre. Ich verstehe das nicht. Warum sind sie nicht froh darüber, wenn ich ein angebliches unerklärliches Phänomen naturwissenschaftlich erkläre? Dann erkenne ich, dass manche Menschen offenbar ihre Illusionen brauchen.
Als ich später zu meinem deutschen Vater nach Deutschland reisen und bei ihm und seiner Frau - meiner Stiefmutter - leben musste, da fuhr er einmal mit mir ins Deutsche Museum nach München. Die vielen Exponate gefielen mir sehr und ich schaute mir alles an. Einmal stand mein Vater vor einem Motor und sagte mit erhobenem Zeigefinger: "Ich kann dir genau sagen, wie dieser Motor von innen aussieht!"
Ich stand auf der anderen Seite des Modells, das war angeschnitten, so dass das Innere zu sehen war. Also sagte ich zu meinem Vater: "Ich auch!" Das bekam ein älterer Münchner mit und lachte und er fragte mich, ob das mein Opa sei. Ich antwortete ihm: "Nein, mein Vater!" Er schüttelte den Kopf und murmelte etwas von "armes Kind!"
Wie ich heute weiß, sah ich damals wirklich noch wie ein Kind aus. Grund: Ich bekam immer viel zu wenig zu essen. Auch dafür gab es einen Grund - wie ich heute weiß: Ich sollte ja die Rolle eines verstorbenen Mädchens übernehmen, das an einer schweren Krankheit litt und unter mysteriösen Umständen zu Tode kam.
Für dieses tote Mädchen gab es wohl auch keinen Totenschein. Und mein eigener Vater ließ mich - seine uneheliche Tochter - aus der Sowjetunion holen - ich sollte die Rolle des verstorbenen Mädchens übernehmen - demnach war ich eine Art wandelnder Totenschein auf Zeit ...